Amadors Aversion gegen Food-Fotos

Mit seiner Forderung, die Food-Porn-Aktivitäten in seinem mit drei Michelin-Sternen dekorierten Lokal bleiben zu lassen, ist Starkoch Juan Amador ordentlich ins Fettnäpfchen gesprungen.
© Markus Oberländer

Seitdem es Smartphones mit Kameras gibt, sind wir stets und ständig von fotografierenden Menschen umgeben: Was „schön“ aussieht, wird abgelichtet und meist noch auf Facebook, Instagram und sonstigen Social Media-Plattformen geteilt. An touristischen Hotspots wird inzwischen mehr fotografiert als geschaut und gestaunt. Und auch in Restaurants ist das schnelle Foto vom erlesenen Gericht für viele ein Muss. „Food Porn“ lautet der derbe, aber auch treffende Ausdruck, der sich dafür eingebürgert hat: Essen, das man zur Schau stellt und anglotzt, stilisiert zu einem bildhaften Kunstwerk.
Werden wir mehr und mehr zu einer Gesellschaft, in der es wichtiger scheint, eine Szene, ein Erlebnis, eine Stimmung digital zu dokumentieren, anstatt sie einfach nur zu genießen und auf diese Art in Erinnerung zu behalten? Es scheint so. Fotografiert wurde auch früher schon viel, aber die Smartphones, deren Fotos immer besser werden, machen es weitaus einfacher als eine reine Fotokamera: Das Smartphone hat man eh immer dabei, und der Weg vom Druck auf den Auslöser zum Post auf Instagram oder Facebook ist mit wenigen Tippern erledigt. Zudem sind die heutigen Smartphones zunehmend in der Lage, auch bei schummriger Restaurantbeleuchtung sehr vorzeigbare Fotos zu machen, einen störenden und auffälligen Blitz braucht niemand mehr.

Das Foto als Eröffnungs-Ritual

Das scheint bei manchen Zeitgenossen zu einer wahren Foto-Sucht geführt zu haben: Absolut alles muss fotografiert werden, der kurze Knips hat unbedingte Priorität. Auch beim Essen. So wie man früher niemals ohne ein Tischgebet zur Gabel griff, gibt es heute Menschen, bei denen das Essen (zumindest im Restaurant) immer zuerst fotografiert werden muss. Mitessende, die das Ritual nicht respektieren und seinen Abschluss nicht abwarten, erhalten einen Rüffel.
Eine Studie des Journal of Consumer Marketing kam 2016 sogar zu dem bizarr anmutenden Ergebnis, dass vielen das Essen besser schmeckt, wenn sie es zuvor fotografiert haben. Die Erklärung: Das Fotografieren funktioniert als kleines Eröffnungsritual, das nicht fehlen darf und die Vorfreude und schließlich den eigentlichen Genuss steigert. Ähnlich wie das Klingen der Gläser vor dem ersten Schluck Wein – oder eben auch ein Tischgebet.
Prestigeträchtige Erlebnisse jeder Art werden heute fotografiert oder gefilmt und anschließend in die Welt hinausgeschickt. Der Besuch in einem Tempel in Vietnam ebenso wie das schicke Essen im hippen Gourmet-Tempel. Es reicht nicht, das Erlebnis einfach nur zu erleben und zu genießen, es muss bildlich dokumentiert und veröffentlicht werden. Am besten sofort. 
Menschen geben gerne an mit dem, was sie erlebt haben, das ist nicht neu. Früher hat man seinen Freunden nach der Rückkehr aus dem Urlaub von seinen Abenteuern erzählt und sie mit langen Abenden vor der Diaprojektionswand gequält. Heute läuft es mit der digitalen Abkürzung etwas anders, die Motivation ist aber im Prinzip dieselbe: Die Neigung zur Selbstdarstellung – oder einfach auch der nett gemeinte Wille, die anderen an der eigenen Begeisterung teilhaben zu lassen. Der Sozialpsychologe Alexander Bodansky sieht im Food Porn „definitiv eine Form der Selbstdarstellung. Allerdings ist Essen auch ein super Indikator für Gruppenmitgliedschaft und soziale Milieus, denen wir angehören. Wir können daraus ableiten, welcher sozialen Schicht wir entsprechen.“ So gesehen finden die heutigen Food-Porn-Aktivitäten ihre frühen Vorläufer in den barocken Gemälden überquellender Tafeln, mit denen Aristokraten des 17. Jahrhunderts ihren Reichtum demonstrierten. Die Funktion des Essens als soziales Unterscheidungsmerkmal ist alles andere als neu. Neu ist nur die Möglichkeit der schnellen und unkomplizierten Dokumentierbarkeit.
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